Exkursion in die suburbane Gemengelage im Nord-Osten Berlins:
Einstieg in die Fallstudienregion und das Projektgebiet Blankenburger Süden
- Johanna Niesen, Michael Swiacki, Tilmann Teske
- 18.04.2024
- Exkursion
- Berlin
Am 18.04.2024 versammeln sich Teilnehmende der Forschungsgruppe zu einem Besuch der Fallstudienregion im Berliner Nordosten und ihrer großflächigen, in der Planung befindlichen Stadterweiterung des Blankenburger Südens sowie der in den 90er Jahren errichteten Siedlung Karow-Nord. Bereits die Tramfahrt vom Alexanderplatz vermittelt einen Eindruck der Abfolge unterschiedlicher Siedlungsformen vom Stadtzentrum in den suburbanen Raum. Folgend auf die dichte, gründerzeitliche Bebauung des Prenzlauer Bergs sowie dem Pankower Süden oder Weißensee, wird der Ankunftsort Heinersdorf durch Teilnehmende als eher dörflich beschrieben. Umgeben von mehreren Kleingartensiedlungen, dominieren hier Einfamilienhausbebauungen sowie große Brachflächen und Gewerbeflächen mit scheinbar geringer Nutzung.
Die besuchten Projektgebiete befinden sich im Bezirk Pankow, welcher berlinweit zu denen mit den höchsten Bevölkerungswachstums- sowie Prognosezahlen zählt, darüber hinaus die meisten rezenten Wohnungsneubauten aufweist und im Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030 als Schwerpunktgebiet für Neubautätigkeiten mit großen Flächenreserven ausgewiesen wird. Im „Entwicklungsraum nach Nordosten“ befinden sich neben den hier fokussierten Projektgebieten eine Vielzahl weiterer großflächiger Quartiersentwicklungen (Karow-Süd, Alte Schäferei, Elisabethaue und weitere, vgl. Abbildung 1). Die Siedlungsentwicklung dieser stätischen Region ist unter anderem geprägt von einer sprunghaften, nachholenden Suburbanisierung in den 90er Jahren im ehemaligen östlichen Teil der Stadt, unterbrochen von der Stagnation im neuen Jahrtausend. Zwar großflächig vorgesehen als Wohngebiete im Flächennutzungsplan, verbleiben hier noch eine Reihe unbebauter Flächen.
Station 1: Die alte Gärtnerei Heinersdorf
Der Rundgang startet mit der „Alten Gärtnerei Heinersdorf“. Hier sollen in den kommenden Jahren auf 8,7 Hektar circa 500 Wohneinheiten, mit 30% geförderten Wohnungsbau in bis zu sechsgeschossigen Gebäuden entstehen. Im ausgewählten städtebaulich- freiraumplanerischen Konzept (siehe Abbildung) aus dem Jahre 2021 zeigen sich der Forschungsgruppe Elemente, die bereits aus anderen Fallstudienregionen bekannt sind, darunter die sogenannten Mobility Hubs, offene Blockrandbebauungen sowie autoreduzierte Innenbereiche. Die heutige Brachfläche als Standort des neuen Quartiers wird zwar unabhängig vom derzeit größten Stadtentwicklungsprojekts „Blankenburger Süden“ entwickelt, ist allerdings Teil des über 430 Hektar großen Untersuchungsgebiets für den neuen Stadtteil. Die Größe liegt auch darin begründet, dass eine Reihe verkehrlicher Entwicklungen für die möglichen 12.000 neuen Bewohner*innen des Stadtteils notwendig sein werden. Der überlasteten verkehrlichen Infrastruktur soll in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit der Verlängerung einer Straßenbahnlinie, dem Ausbau der naheliegenden S-Bahn Haltestelle sowie der Erschließung durch Radwege begegnet werden. Gleichzeitig sind unter anderem diese verkehrlichen Maßnahmen Anstoß für vielfältige und im öffentlichen Raum sichtbaren Formen von Bürger*innenprotesten, welches ein zentrales Thema der nächsten Station der Exkursion – einer angrenzenden Kleingärtenanlage – darstellte.
Station 2: Kleingartenanlagen im Konflikt mit Stadterweiterungsprojekten
Abseits der Straße, abgegrenzt durch einen Zaun und ein Tor, läuft die Gruppe durch eine Kleingartensiedlung. Hier, so der Eindruck der Teilnehmenden, wirkt es ruhig. An diesem frühen Nachmittag unter der Woche ist auf den sandigen ungepflasterten Wegen und auch in den Gartenparzellen kaum jemand anzutreffen. Dafür erhält die Forschungsgruppe Einblick in die räumlichen Strukturen der Kleingartenanlage. Im Zusammenhang mit der Stadtentwicklungsmaßnahme gab es in den letzten Jahren immer wieder Proteste, davon ist jedoch im Inneren des Kleingartengebiets nichts zu sehen.
Station 3: Projektgebiet Blankenburger Süden
Mit Blick auf das ehemalige Rieselfeld im nördlichen Teil des Untersuchungsgebiets verschafft sich die Gruppe einen Eindruck von den Ausmaßen des zu entwickelnden Gebietes. Nördlich angrenzend an die besuchte Kleingärtenanlage sollen hier auf landeseigenen Flächen neben 6.000-8.000 Wohneinheiten, Gewebeflächen, Schulen und Kitas entstehen. Eine der Leitlinien des Stadtentwicklungsprojekts Blankenburger Süden verweist zudem auf die umliegenden historischen Ortskerne: „Vielfalt und Gemeinschaft zwischen Blankenburg und Heinersdorf“ (SenStadt 2021). Die für die Anwendung des Instruments der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme notwendigen vorbereitenden Untersuchungen starteten bereits im Jahre 2016 und umfassten einen vergleichsweise komplexen Partizipationsprozess aus unterschiedlichen Akteur*innen. Neben den kritischen Stimmen zu den umfangreichen verkehrlichen Maßnahmen, missbilligen Bürger*innenvereinigung auf ihren Online-Präsenzen die „ökologische Herausforderung“ ein ehemaligen Rieselfeldes zu bebauen, dass der Abwasserversickerung diente (Wir sind Blankenburg.com o.J.) oder die Bebauungsdichte und Geschossigkeit, welche nicht dem Leitbild „Stadt behutsam weiter bauen im Blankenburger Süden“ (Gerlach 2021) entspräche.
Beim Blick auf die öffentlich einsehbaren zwei Varianten des Struktur- und Nutzungskonzeptes für den Blankenburger Süden zeigt sich (SenStadt 2023), dass hier ein funktionsgemischter Stadtteil auf 150 Hektar Fokusraum entstehen soll, der zwischen Wohn- und Gewerbeflächen, auch Mischnutzungen vorsieht. Zusätzlich sind zwei Grundschul- sowie zwei Sekundarschulstandorte, eine Volkshochschule und eine durch das Quartier führende Straßenbahnlinie geplant. Das umgebene Grüngerüst ist nach unterschiedlichen Themen als Waldland sowie Gartenland strukturiert und umfasst mehrere Wasserläufe. Bei der Forschungsgruppe verbleibt der Eindruck, dass die Planungen für den Standort vergleichsweise umfangreiche Gewerbeflächen enthalten. Der für die Stadt Berlin nicht unübliche komplexe und langandauernde Planungsprozess soll im nächsten Schritt in einer Umsetzungskonzeption bis zum Ende des Jahres 2024 münden und damit die vorbereitenden Untersuchungen abschließen. Nicht nur in Bezug auf die vielfältigen Partizipationsprozesse und dabei sichtbar werdende Herausforderungen stellt der Blankenburger Süden ein für die Forschungsgruppe interessantes Fallbeispiel dar, welches weitere Projektphasen in der ein oder anderen Weise prägen wird.
Abbildung 9: Forschungsgruppe auf dem Weg durch das Einfamilienhausgebiet (Foto J.Niesen)
Station 4: Karow-Nord
Den Abschluss der Exkursion in die suburbane Gemengelage Berlins bildet der Besuch des in den 90er Jahren entstandenen Stadtquartiers Karow-Nord – oder auch Neu-Karow genannt. Das nach der IBA 1987 und dem Mauerfall geplante Quartier wurde unter dem von Hans Stimmann (Berliner Senatsbaudirektor und Staatssekretär für Planung von 1991-1999) geprägten Leitbild der „Neuen Vorstädte“ entwickelt. In der Euphorie der Wiedervereinigung und dem Beschluss, Berlin zur Hauptstadt zu ernennen, wurde eine sich später als überzogen wahrgenommene Wachstumsprognose zum Ausgangspunkt eines „Planungs- und Entwicklungsfiebers“ (Hesse & Wulf, 2005: 17). Der daraus resultierende Wohnungsbedarf wurde auf 80.000 bis 100.000 Wohnungen geschätzt, welcher durch Siedlungsentwicklung nach dem Leitbild „Neue Vorstädte“ gedeckt werden sollte (ebd.: 18). Der Einstieg in dieses stimmannsche Leitbild wurde mit der Planung von Karow-Nord als Alternative zu den klassischen Großwohnsiedlungen der Vorwendejahre, unter den Prämissen der europäischen Stadt und mit einer geplanten Mischung aus 20 % Arbeiten und 80 % Wohnen in ca. 5000 Wohneinheiten gefunden (Gallep et al., 2018). Mit dem ausbleibenden Wachstum (u. a. aufgrund der abgelehnten Olympia-Bewerbung Berlins für das Jahr 2000), konnten die „Neuen Vorstädte“ nur teilweise entwickelt werden – in Neu-Karow konnten dennoch 90% der Planungen verwirklicht werden. Die Umsetzung des Quartiers fand in einer Rekordzeit von 6 Jahren statt (1995 Grundsteinlegung und 1998 Fertigstellung).
Mit dem Bus gelangt die Gruppe vom zukünftigen neuen Stadterweiterungsprojekt Blankenburger Süden durch den alten Dorfkern Karows am historischen Anger vorbei in das postmodernistisch geprägte Karow-Nord. Das Architekturbüro Moore/Ruble/Yudell, zentrale Köpfe der Städtebauformbewegung New Urbanism, planten Neu-Karow im menschlichen Maßstab und setzten dabei auf Kleinteiligkeit – der Anspruch lag auf einer differenzierten sowie vielfältigen Gestaltung in Architektur und Städtebau. Die abwechslungsreiche Gestaltung zeigt sich den Forscher*innen bereits beim Gang von der Bushaltestelle durch das Quartier in der wechselvollen Platzabfolge. Beim ersten Stopp auf der Wiese am Elsebrocken wird am Beispiel der Häuser in der Achillesstraße die vielfältige Dachgestaltung in Karow-Nord deutlich. Während des Spaziergangs tauchen unterschiedliche Typologien im Quartiert auf; Neben der quartiersprägenden durchbrochenen Blockrandbebauung ist auch der sogenannte „Karow-Court“ in Form von zwei L-förmigen Wohngebäude und einer Stadtvilla ausfindig zu machen (Tausch, 1995).
Beim weiteren Durchstreifen des Quartiers wird die Erschließungsstruktur erlebbar, welche von den Planer*innen eine Differenzierung durch die Hierarchisierung in Haupt- und Nebenstraßen vorsah. Des Weiteren passieren die Forscher*innen immer wieder unterschiedliche Freiräume, die als Alternative zu klassischen suburbanen Siedlungen anspruchsvolle Räume bieten sollten. Spielplätze und vereinzelte Spielgeräte im Freiraum prägen die grünen Flächen im Quartier.
Stellenweise zeigen in die Jahre gekommene Spielflächen oder Überwucherungen in den Freiräumen die fehlende Beachtung und Pflege der Grün-, Frei- und Spielflächen. Nach wie vor werden die Flächen jedoch von Bewohner*innen genutzt, ob jung oder alt, ob Spielplatz, Spielplatz oder zentraler Platz. Mit der Diskussion über die vielfältige Freiraumnutzung und den Zustand der Grün- und Freiflächen, schließen wir die Exkursion in Berlin mit einem gemeinsamen Abendessen in der urbanen Dichte Schönebergs ab.
Literaturverzeichnis:
- Gerlach, Ulf (2021): The Path Is Created by Walking! : Large Projects and the Need to Reduce Complexity. Pnd – rethinking planning 2021(1), 102-116 (2021). special issue: “Große Quartiere = New Urban Quarters / herausgegeben von Agnes Förster und Gisela Schmitt” / pages 102-116. DOI: 10.18154/RWTH-2021-01683.
- SenStadt (2023): Projektbeirat “Stadt behutsam weiterbaun im Blankenburger Süden”. Vierzehnte SItzung am 27.06.2013. Unter Mitarbeit von Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen. Online verfügbar unter https://www.berlin.de/sen/stadtentwicklung/_assets/neue-stadtquartiere/blankenburger-suden/dokumentation_14-projektbeirat_blankenburger-sueden.pdf?ts=1705017669, zuletzt geprüft am 23.05.2024.
- SenStadt (2021): Blankenburger Süden: Teilprojekte. Alte Gärtnerei Heinersdorf. Unter Mitarbeit von Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen. Online verfügbar unter https://www.berlin.de/sen/stadtentwicklung/neue-stadtquartiere/blankenburger-sueden/teilprojekte/, zuletzt geprüft am 23.05.2024.
- SenStadt (2021): Blankenburger Süden. Hg. v. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen. Online verfügbar unter https://www.berlin.de/sen/stadtentwicklung/neue-stadtquartiere/blankenburger-sueden/, zuletzt geprüft am 16.05.2024.
- Wir sind Blankenburg.com (o.J.): Bauvorhaben Blankenburger Süden. Online verfügbar unter https://wir-sind-blankenburg.com/bauvorhaben-blankenburger-sueden/, zuletzt geprüft am 16.05.2024.
- Gallep, P., Baba-Kleinhans, K., Deiters-Schwedt, A., Lammert, F., Mareckova, K., Dubsky, J., Schläger, P., Overmeyer, K., & Polinna, C. (2018). Siedlungen der 1990er Jahre in Berlin und Um-gebung. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen.
- Hesse, M., & Wulf, U. (2005). Die „neue Vorstadt” – Urbanisierung der Peripherie durch Dichte. Das Projekt Karow-Nord – Erfahrungen mit dem suburbanen Städtebau in Berlin. RaumPlanung, 17–21.
- Tausch, G. (1995). Berlins Träume von der inakten Vorstadt. Arch+, 126, 15–16.