Zwischen Konflikt und Synergie: Nachhaltigkeit und Vereinbarkeit
von Erwerbs- und Sorgearbeit in der Planungspraxis (Teil 1)
- Stephan Große, Sarah Mente, Johanna Niesen
- 05.05.2025
- Forschungsstand
„Nachhaltigkeit“ und „nachhaltige Entwicklung“ sind in aller Munde – sowohl im Alltag als auch in der Planungspraxis. Was genau wird jedoch darunter verstanden? Wird ein allgemeines Nachhaltigkeitsverständnis zu Grunde gelegt, welches ein Gleichgewicht aus ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten schaffen soll? Oder werden nur Teilaspekte betrachtet, welche unter das große Dach der „Nachhaltigkeit“ eingeordnet werden?
Betrachtet man vor diesem Hintergrund einzelne Projekte der Stadtentwicklung (bzw. im Sinne dieser Forschungsgruppe: Stadterweiterungen), so fällt auf, dass ökologische sowie ökonomische Aspekte bereits Beachtung finden bzw. eingearbeitet werden. Wie verhält es sich hingegen bei der Frage nach Vereinbarkeit und der damit einhergehenden Geschlechtergerechtigkeit im Sinne der sozialen Nachhaltigkeit? Für viele Haushalte stellt diese Frage einen großen Einfluss auf den Alltag dar, diese wird aber selten in Planungsprozessen explizit thematisiert.
Im Rahmen der Forschungsgruppe bietet sich unseren beiden Teilprojekten die Möglichkeit, diesen Themenkomplex genauer zu betrachten und dabei die jeweilige Sichtweise einzubringen. Das ist zum einen die Sichtweise der „Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit“ auf Haushaltsebene und zum anderen die Sichtweise der „Governance suburbaner Quartiersentwicklungen“ der jeweiligen Entscheider*innen auf Kommunalebene.
Aus der Schnittmenge der beiden Sichtweisen ergeben sich einige Fragestellungen: Wie werden (insb. ökologische) Nachhaltigkeit und Vereinbarkeit von Sorgearbeit und Erwerbsarbeit in der kommunalen Planungspraxis berücksichtigt? Gibt es hier Konkurrenz oder Synergien? Es wird angenommen, dass die beiden Themenbereiche selten gemeinsam gedacht werden und dass sie im Zuge der Planung eher als konkurrierende Fachthemen eingebracht und verhandelt werden. Hintergrund ist u.a., dass es (rechtliche) Vorgaben in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit, nicht jedoch in Bezug auf Vereinbarkeit gibt. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße Nachhaltigkeitsziele bereits implizit positive Effekte auf Vereinbarkeit haben? Schließlich spielt auch die politische Ebene eine Rolle: Wie werden diese Themen von der kommunalen Politik betrachtet und priorisiert?
Zum übergeordneten Einstieg in die skizzierte Thematik bietet sich das international breit diskutierte Verständnis von Nachhaltigkeit an. In der Agenda 2030 der United Nations wurden 17 „Sustainable Development Goals“ (SDGs) formuliert, welche jeweils ein Thema fokussieren und dieses operationalisieren sollen. Besonders relevant sind für unsere Fragestellung die beiden SDGs 5 (Geschlechtergleichstellung) und 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden). Aus beiden Zielen lässt sich ablesen, dass auf übergeordneter und internationaler Politikebene umfangreiche Ziele gesteckt wurden.
Ebenso auf nationaler Ebene: Die jüngste Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2025[1] zeigt, dass integrierte Lösungsansätze angestrebt werden, welche u.a. die ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit verbinden sollen. In der Stadtentwicklung wird hier beispielsweise das Spannungsfeld aus Klimaschutzzielen und der Schaffung lebenswerter Räume für Familien aufgemacht. Vor allem seitens der geschlechtergerechten Stadtplanung werden die Synergieeffekte mit Nachhaltigkeitsthemen häufig mitgedacht und finden in einigen Leitfäden und Veranstaltungen Erwähnung[2]. Energetische Sanierung und Flächenentsiegelung sind ökologisch gesehen wichtig, aber um die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie zu verbessern, sind ebenso Lösungen auf Quartiersebene nötig, welche beispielsweise kurze Wege zu Betreuungseinrichtungen umfassen. In Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit wird in vielen Vorträgen und auch in den neuen Leitlinien zur geschlechtergerechten Stadtentwicklung auf die Synergien mit der ökologischen Nachhaltigkeit hingewiesen oder ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit werden diese Synergien jedoch weniger berücksichtigt. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der Bereich der Geschlechtergerechtigkeit auf die Sichtbarkeit von Nachhaltigkeitsthemen angewiesen ist, um davon zu profitieren.
Zusammengefasst: Es liegen insbesondere auf übergeordneter politischer Ebene eine Reihe an formulierten Zielen vor. Welche Anwendung finden diese jedoch auf kommunaler Ebene? In diesem Blogbeitrag bzw. den weiteren anschließenden Blogbeiträgen wollen wir neben den genannten Hypothesen Erkenntnisse aus unseren Interviews vorstellen, wie Akteur*innen die Themen bewerten und welche Rückschlüsse sich daraus ziehen lassen.
Konflikt oder Synergie?
Unsere ersten Untersuchungen zeigen, dass insbesondere ökologische Nachhaltigkeit in der Planung bereits eine größere Rolle spielt als Vereinbarkeit. Ökologische Anforderungen an Bau- und Stadtplanung werden zunehmend berücksichtigt, während Sorgearbeit und Gendergerechtigkeit oft als nachrangige Themen erscheinen. Interessant ist jedoch, dass nachhaltige Maßnahmen gelegentlich einen Kollateralnutzen für die Vereinbarkeit haben – etwa wenn grüne, verkehrsberuhigte Quartiere entstehen, die familienfreundlich sind. Von Planungsseite wird dafür teilweise der Begriff „integratives Planen“ verwendet.
Überschneidungen der beiden Themen sind vielfältig: Verkehrsberuhigung, kurze Wege und wohnortnahe Infrastrukturmaßnahmen können sowohl ökologische als auch vereinbarkeitsfördernde Ziele bedienen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass (ökologische) Nachhaltigkeit als normatives Ziel eine stärkere Verankerung in der Planung findet, während Vereinbarkeit stärker von einzelnen Akteur*innen und politischen Prioritäten abhängt.
Das Konzept der Stadt der kurzen Wege kann hierfür als Beispiel dienen: durch die räumliche Nähe von Wohnen, Arbeiten und Freizeitaktivitäten wird der Alltag entspannter und effizienter. Es wird auf die Nutzung von ÖPNV und Radverkehr sowie Fußverkehr gesetzt. Lange Fahrtzeiten mit dem Auto gehören in diesem Konzept der Vergangenheit an, was bedeutet, dass mehr Zeit für die Vereinbarkeit bleibt. Der reduzierte Bedarf an motorisiertem Individualverkehr führt zu weniger CO2-Emissionen und verbessert die Luftqualität. Die Förderung von Fuß- und Radverkehr sowie die Schaffung von Grünflächen tragen nicht nur zur Umweltverbesserung bei, sondern fördern auch die Gesundheit der Bewohner*innen. Kinder müssen innerhalb eines Stadtquartiers nicht so häufig begleitet werden, weil die Wege kurz und sicherer sind. Somit unterstützt dieses Konzept sowohl die soziale als auch die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit und schafft lebenswertere, familienfreundlichere Stadtquartiere. So suggeriert zumindest das Konzept der „15-Minuten-Stadt“ – aber das Modell stößt in der Umsetzung in suburbanen Wohnquartieren schnell an Grenzen, da zum Beispiel häufig die Entfernung von Wohnort und Arbeitsort nicht mitgedacht werden kann, was vor allem in Bezug auf Frage nach der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit hohe Relevanz hat.
Gleichzeitig beobachten wir, dass Nachhaltigkeits- und Vereinbarkeitsziele zwar häufig in frühen Planungsphasen mitgedacht werden, aber im Laufe der Umsetzung auf Herausforderungen (z. B. in Bezug auf Budget oder Baurecht) stoßen und in ihrem initialen Umfang nicht realisiert werden. Insbesondere in der konkreten baulichen Umsetzung werden Vereinbarkeitsthemen oft als nachrangig eingestuft, während ökologische Aspekte zumindest in Teilen erhalten bleiben – etwa durch gesetzliche Mindestanforderungen an Energieeffizienz und Flächennutzung. Dies legt nahe, dass verbindliche Vorgaben und Anreizstrukturen eine wichtige Rolle spielen, um diese Themen dauerhaft in der Planung zu verankern.
Besonders interessant sind auch die strukturellen Bedingungen: Wer sind die Entscheidungsträger*innen in der Stadtplanung und welche biografischen Prägungen bringen sie mit? Sind diese Faktoren vielleicht mitverantwortlich für die Gewichtung der Themen? Und wie sieht es in der kommunalen Politik aus – haben Parlamente und Verwaltungen Vereinbarkeit und ökologische Nachhaltigkeit gleichermaßen auf dem Schirm oder ein Bereich dem anderen vorgezogen?
In der aktuellen Debatte über nachhaltige Stadtplanung und die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit spielen außerdem mediale Sichtbarkeit und gesellschaftliche Aufmerksamkeit eine entscheidende Rolle: Während Nachhaltigkeit als Begriff in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat und insbesondere ökologischen Aspekten viel Raum eingeräumt wird, finden Themen der Sorgearbeit und Gendergerechtigkeit oftmals weniger Beachtung. Dies könnte teils darauf zurückzuführen sein, dass Sorgearbeit – insbesondere die Pflege von Kindern, Angehörigen oder anderen vulnerablen Gruppen – in unserer Gesellschaft nach wie vor als “unsichtbare” Arbeit betrachtet wird. Sie wird meist privat und unbezahlt verrichtet, was ihre Sichtbarkeit und politische Relevanz einschränkt. Um einen Kollateralnutzen aktiv zu nutzen und ein integratives Planen zukünftig explizit zu befördern, gilt es Schnittmengen dieser beiden Themen weiter herauszuarbeiten.
Ausblick
In der aktuellen Debatte um nachhaltige Stadtentwicklung und Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit zeigt sich ein interessantes Paradoxon: Während beide Themen auch von individuellen Entscheidungen der Bewohner*innen abhängen können, werden sie auf struktureller Ebene unterschiedlich behandelt. Nachhaltigkeit erfährt zunehmend gesetzliche Regulierung und verbindliche Vorgaben in der Stadtplanung, wohingegen die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit oft als rein private Angelegenheit betrachtet wird. Diese Diskrepanz wirft wichtige Fragen auf: Könnte eine stärkere gesetzliche Verankerung von Vereinbarkeitsfragen in der Stadtplanung ähnlich positive Effekte erzielen wie bei Nachhaltigkeitsstandards? Wie können wir die Synergien zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit in der Stadtentwicklung besser nutzen und was sind mögliche Stellhebel?
Dieser Blogartikel bleibt bewusst offen. Unsere Forschung entwickelt sich weiter, neue Daten und Erkenntnisse werden hinzukommen und mit ihnen möglicherweise neue Perspektiven auf die Fragen, die uns umtreiben. Wir freuen uns darauf, auf Konferenzen und in kommenden Diskussionen mit Fachleuten und Interessierten in Kontakt zu treten, um gemeinsam neue Perspektiven und Lösungsansätze zu entwickeln. Wir laden alle ein, ihre Ansichten und Überlegungen zu teilen, um gemeinsam einen wichtigen Schritt in Richtung einer gerechteren und nachhaltigeren Stadtplanung in der Zukunft zu machen. Im nächsten Teil dieser Artikelserie werden insbesondere die Synergien von Nachhaltigkeit und Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit in der Planungspraxis beleuchtet.

[1] Die Bundesregierung (2025): Transformation gemeinsam gerecht gestalten. Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie Weiterentwicklung 2025. Verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/976072/2335292/c4471db32df421a65f13f9db3b5432ba/2025-02-17-dns-2025-data.pdf?download=1
[2] z. B. Broschüre Geschlechtergerecht und ökologisch – Planen und Bauen für unsere Stadt der Zukunft, Tagung der Landeshauptstadt München, Tagungsbericht, 15. Oktober 2024