Urbanität mit Dorfanger
Was macht ein dörfliches Siedlungselement in der neueren Suburbanität?

Einleitung

Zur Erkundung von Karow Nord reiste der Forschungsverbund von der Berliner Innenstadt mit der Buslinie 158 durch das ehemalige Bauerndorf Karow an den Stadtrand. Alt Karow ist Anfang des 13. Jahrhunderts gegründet worden, wenngleich die heutige Bebauung deutlich jüngeren Datums ist. Die ältesten Gebäude dürften nach ihrer traufständigen Ausrichtung entlang der Straße und ihrer klassizistischen Ornamentik zu schließen seit Ende des 18. Jahrhunderts errichtet worden sein. Aufgrund des alten Siedlungsgrundrisses, den die Aufreihung fast aller historischen Häuser entlang der Hauptstraße charakterisiert, kann Alt Karow den Straßendörfern jener Zeit zugeordnet werden. Da zwischen den einander gegenüberstehenden Häusern ein breiter mit Rasen bewachsener und mit Bäumen bestandener Freiraum die Hauptstraße in zwei Wege trennt, von denen her die Häuser erschlossen werden, kann Alt Karow als Angerdorf spezifiziert werden. Mittelalterliche Angerdörfer sind in Brandenburg verbreitet und gehören siedlungshistorisch häufig in einen ökonomischen Zusammenhang mit Gutshöfen[1]. Soweit eine nicht außergewöhnliche Beobachtung. Interessant wurde diese Beobachtung, als wir am Exkursionsziel in Karow Nord, einer Siedlungserweiterung der 1990er Jahre, an der Achilles Straße eine ähnliche Aufweitung der Bebauung entdeckten, die uns an den Dorfanger in der alten Siedlung Karow erinnerte. Von seiner Anlage und Dimensionierung her erschien uns dieser ‚Anger‘ irritierend, da seine Gestaltung und räumliche Lage im Straßenquerschnitt der Achille Straße dem typischen Dorfanger wie z. B. in Alt Karow deutlich widerspricht.

Abb. 1: Angerartige Situation an der Achille Straße in Karow Nord (Berlin). (Foto: Frank Lorberg, 2019).

Im Bildausschnitt links jenseits der Strauchpflanzung befindet sich die Achille Straße mit der nördlich angrenzenden Geschäftszeile, während rechts die südlich gelegenen Geschäfte und Gaststätten erkennbar sind.

Der Anger als kommuner Freiraum

Die Funktion und Genese des Dorfangers sind in der Siedlungsgeografie für Bauerndörfer hinlänglich beschrieben worden. Mittelalterliche Dörfer bestehen aus Hofstellen, die entlang von Dorfstraßen gereiht liegen. Die Hofparzellen waren meistens in Privatbesitz der sie bewirtschaftenden Familien, während die Dorfstraßen im Gemeinbesitz der Bewohnerschaft standen[2]. Diese prinzipielle Aufteilung des Besitzes zwischen begrenzten und allgemeinen Eigentumsrechten ermöglichte sowohl ‚individuelle‘ Nutzungsentscheidungen auf der privaten Hofparzelle als auch Mobilität und Austausch auf den öffentlichen Wegen. Die räumliche Trennung und der funktionale Bezug zwischen privaten und öffentlichen Bereichen waren für die bäuerliche Ökonomie des Dorfes konstitutiv. Vom Hof her betrachtet ergaben sich die für alle nutzbaren Straßen aus den auf die Höfe und ihrer agrarischen Ökonomie bezogenen Vorplätze, auf denen z. B. temporär Vieh stehen und Fuhrwerke abgestellt werden, Mist oder Holz lagern konnten. Über diesen notwendigen Lagerplatz hinaus steht der Vorplatz der Allgemeinheit zur Verfügung (ohne dass die abgestellten Sachen die Passierbarkeit der Straßen behindern) bzw. wird von den Individuen selbstverständlich als kommuner Ort und Weg genutzt.[3] Insofern wäre die öffentliche Straße aus der privaten Parzelle als notwendige Ergänzung hervorgegangen. Diese Aufteilung des Dorfes unterschied sich im Mittelalter von der ‚Aufteilung‘ in der Gewannflur außerhalb des Dorfes, wenn sie gemeinsam unter Flurzwang bewirtschaftet oder als Allmende genutzt wurde.[4] Mit der Aufhebung des Flurzwanges und der Verkoppelung der Agrarflächen erhielt die ehemalige Gewannflur zusätzliche Wege zur Erschließung und individuellen Bewirtschaftung der privaten Feldparzellen[5]. Neben der direkten Nachbarschaft der Höfe machten gerade die gemeinsamen Anteile einer Ansiedlung wie Anger, Brunnen und Weg einzelne Gehöfte zum Dorf. [6]

Abb. 2+3: Dorfanger in Karow (Quelle: OpenStreetMap) und Luftbild von Karow um 1928 (Quelle: Geoportal Berlin, Luftbilder 1928, Maßstab 1:4000[7])

Der Anger entsteht aus einer Aufweitung der Dorfstraße, die über die auf die gereihten Hofstellen bezogenen Vorplätze hinausgeht und aus der ein zusätzlicher, allmendhafter Freiraum zwischen zwei Erschließungswegen vor den Höfen resultiert. Ist die bäuerliche Siedlung von den Höfen her entwickelt worden, die von gemeinsam nutzbaren Straßen erschlossen werden, so ergibt sich mit dem Dorfanger ein neuer Freiraum, der den Gebrauch der Straßen erweitert und z. B. dem Vieh und Geflügel als Rastplatz und zur Weide oder dem Markt und zu Versammlungen dienen konnte; also allesamt Nutzungsmöglichkeiten, die nicht an den direkten Kontakt zum Hof gebunden sind und nicht der unmittelbaren Fortbewegung dienen. In gutsherrlichen Dorfgründungen, die meist als geplante Straßendörfer angelegt wurden, konnten Dorfanger als Siedlungselement eingesetzt werden, und finden als solches z. B. in der Heimatschutzbewegung gestalterische Berücksichtigung, wo er Tradition und Heimat symbolisieren soll. Wie auch immer, gilt der Anger als dörfliches Phänomen und kann als solches im alten Dorf Karow erkannt werden.

Der Dorfanger im neueren Städtebau

Angesichts des Dorfangers in der Siedlungsgeschichte überraschte uns die angerartige Gestaltung des Straßenfreiraums an der Achilles Straße in Karow Nord, einer Siedlungserweiterung der 1990er Jahre. Luftbilder deuten darauf, dass der östliche Bauabschnitt mit dem ‚Dorfanger‘ erst Anfang der 2000er Jahre fertiggestellt wurde. Für die Planung zeichnet das Büro ‚Moore Ruble Yudell Architects & Planners‘ verantwortlich, welches auch einen Wohnkomplex am Tegeler Hafen plante und als ein Vertreter postmoderner Architektur und entsprechenden Städtebaus gilt, der in den axialen Anlagen und historisierenden Gebäudeformen von Karow Nord augenfällig hervortritt. Neben dem ‚Dorfanger‘ enthält die Siedlung weitere postmoderne Elemente wie historisierende Gebäude z. B. mit Spitztonnendächern und dem Barock anmutende Symmetrien im Stadtgrundriss. Im städtebaulichen Leitbild folgt Karow Nord ähnlichen Siedlungserweiterungen wie z. B. Kirchsteigfeld in Potsdam, das zeitgleich vom Büro Krier-Kohl entwickelt wurde.

Abb. 4+5: Kartenausschnitt mit städtebaulichem Anger in Karow Nord, links (Quelle: OpenStreetMap) und bauliche Zonierung des Angers, rechts (Foto: Frank Lorberg, 2019).

Südlich und nördlich der beiden Stränge der Achilles Straße grenzen Einzelhandel, Gaststätten und Dienstleistungsangebote an. Die angerartige Rasenfläche ist nach Norden mit einer Hecke zum Gehweg hin abgegrenzt und nach Süden mit kniehohen Felsbrocken von einem Gehweg getrennt. Auf dem Rasen, der keine Nutzungsspuren zeigt, stehen Gleditschien. Zwar sind die Angebote auf Versorgung und Öffentlichkeit hin ausgerichtet, verlieren aber durch die Weite des Straßenfreiraums und des ‚Angers‘ an Dichte und Begegnungsmöglichkeiten. Der Gebäudeabstand beider Straßenseiten beträgt an diesem Abschnitt ca. 50 Meter, von denen ca. 20 Meter auf den ‚Anger‘ entfallen. Das Siedlungselement deutet auf dörfliche Nähe und Aufenthaltsqualität, ohne sie zu ermöglichen, weil sich die Nutzer:innen im ausgedehnten Stadt- und Verkehrsraum zerstreuen und verlieren. Erst an den Rändern, in und vor den Geschäften und Gaststätten findet Begegnung statt, während die Mitte und insbesondere der Anger mit Rasen so ungenutzt wie leer bleibt.

Umso mehr überraschte uns am folgenden Exkursionstag, als wir die aktuelle Siedlungserweiterung der Buckower Felder besuchten, dass der Anger seine Beliebtheit bei Stadtplaner:innen auch in der Gegenwart zu behalten scheint. Im Neubaugebiet befinden sich an Kreuzungen mit Geschosswohnungsbau, dessen Erdgeschosse soziale Nutzungen enthalten sollen, sogenannte Angerplätze.[8] Im Gespräch mit Vertreter:innen der Wohnungsbaugesellschaft STADT UND LAND, Berlin, in deren Auftrag die neue Siedlung errichtet wird, konnte bei der Besichtigung das Zustandekommen der Namensgebung ‚Angerplatz‘ nicht geklärt werden. Meines Erachtens verbindet diese Bezeichnung den ‚Anger‘, der historisch aus bäuerlichen Siedlungen bekannt ist, mit dem ‚Platz‘, der insbesondere als städtischer Freiraum gilt, und führt damit die Bedeutungen von dörflichem Leben in überschaubaren Siedlungen und urbanem Flair zusammen. Die seltsame Bezeichnung changiert merkwürdig paradox zwischen Intimität und Anonymität. Damit entsteht ein neues städtebauliches Bild, indem der ‚Angerplatz‘ Ansichten von Heimat und Gemächlichkeit zu erwecken vermag, die frei von dörflicher Enge und Traditionsgebundenheit sind. Auf ihm überlagern sich Auffassungen vom großstädtischen Kiez und der Lebenswelt der modernen gesellschaftlichen Mittelschicht, die sich umweltverantwortlich und ernährungsbewusst verhält und das auch zeigt[9]. Insofern steht der Angerplatz für eine urbane Idylle, die sich in der Siedlung einstellen soll. „Innerhalb des Quartiers sind vier Angerplätze mit Sitzmöglichkeiten und Grünflächen vorgesehen. Diese fördern als Orte der Begegnung und Kommunikation das gemeinschaftliche Miteinander der Bewohnenden“[10], verspricht die Wohnungsbaugesellschaft. Dennoch bleiben die Straßenkreuzungen wie die Geschossbebauung Bestandteile einer städtischen Siedlungserweiterung, die allenfalls durch die malerische Bezeichnung verbal valorisiert wird, ohne dass die bauliche Qualität der Freiräume stiege.

Abb. 6: Visualisierung eines ‚Angerplatzes‘ für die Siedlungserweiterung Buckower Felder (Quelle: STADT UND LAND, Berlin, © Bollinger Fehling Architekten)[11]

Historisierende Postmoderne

Sowohl Karow Nord als auch Bukower Felder greifen auf formale Anleihen dörflicher Siedlungselemente zurück. Die Verwendung von historischen Formanleihen im Städtebau ist seit den 1980er Jahren im Postmodernismus der Architektur verbreitet, der nach dem Internationalen Stil der Moderne, der in Ost (z. B. Berlin Marzahn) und West (z. B. Berlin Gropiusstadt) ähnlich wuchtige und monotone Hochhaussiedlungen auf die ‚grüne Wiese‘ setzte, nach neuen Formen suchte. Ein städtebauliches Ziel bestand in der symbolischen Herstellung von Tradition beispielsweise durch die Betonung lokaler Besonderheiten, aber auch historistischer Klischees wie Achsen und geometrischer Formen im Stadtgrundriss und der Verwendung historischer Bildmotive bzw. Stadtansichten. Ideengeschichtlich ist der postmoderne Städtebau an der Idee der Eigenart und besonderen Identität von Orten orientiert, die in entsprechenden Siedlungserweiterungen charakteristisch hervortreten sollen, wenngleich die hergestellte Besonderheit der Siedlung eine Eigenart aus zweiter Hand bleibt.[12] Extern gestiftete Zeichen, Bauwerke und Skulpturen können das Erscheinungsbild einer Stadt dominieren, gewinnen aber erst dadurch besondere Bedeutung oder ortsspezifische Identität, dass sie von den dort lebenden Menschen mit ihren Geschichten und Erinnerungen besetzt werden. In diesem sozialen Prozess werden sie mit lokaler Bedeutung gefüllt. Gerade in einer demokratischen Gesellschaft benötigt die Entwicklung von Identität viel Zeit und lebendige Menschen, die in ihrer Umgebung handeln, Interessen verwirklichen und dabei Spuren hinterlassen[13]. In dieser Hinsicht mag der postmoderne Städtebau den Bewohner:innen mehr Möglichkeiten bieten als die Hochhauskomplexe des Internationalen Stils, die unter dem Leitbild ‚Urbanität durch Dichte‘ entstanden sind, ob die neue Siedlung aber ein lebenswertes Quartier werden kann, hängt letztlich an der sozialen Infrastruktur, den Geschäften des täglichen Bedarfs, Bildungseinrichtungen, Gaststätten und Kneipen, den wohnungsbezogenen, privaten Freiräumen, deren Zugänglichkeit und Verhaltenssicherheit, sowie der Lesbarkeit öffentlicher Freiräume und ihrer Vegetationsausstattung. Daher kommt der Freiraumplanung, die soziale, gebrauchsfähige und alterungsfähige Freiräume plant, in Siedlungserweiterungen eine zentrale Position zu. Bewährte Beispiele für qualitativ gelungene Freiräume, von denen Freiraum- und Stadtplaner:innen lernen können, finden sich in gealterten Siedlungen, an denen sie nach Merkmalen und Nutzungen empirisch beschrieben werden können.

Endnoten:

[1] Stadt und Land Wohnbauten-Gesellschaft mbH: In Vermietung: Neues Stadtquartier ‚Buckower Felder‘. Internet-Quelle (Letzter Zugriff: 05.07.2024): https://stadtundland.de/mieten/angebote-neubau/neukoelln/buckower-felder-vermietung

[2] Auf die konstitutive Bedeutung der rechtlichen Trennung von privaten und öffentlichen Freiräumen für die demokratische Willensbildung haben in den 1950er Jahren einerseits Hannah Arendt ‚Vita activa‘ und anderseits Jürgen Habermas ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ hinsichtlich der Bürgerlichen Gesellschaft aufmerksam gemacht.

[3] Hülbusch, K.-H. (1996): Die Straße als Freiraum. In: Stadt+Grün. H. 4, S. 246-251. Lorberg, F. (1998): Randbemerkungen. Diplomarbeit am Fachbereich Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel. Archivierter Manuskriptdruck. Kassel.

[4] Rösener, W. (1993): Die Bauern in der europäischen Geschichte. München. Küster, H. (1995): Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. München.

[5] Den Gedanken, dass die Parzellierung privater Grundstücke öffentliche Wege notwendig macht, hat Florian Bellin-Harder in seiner Diplomarbeit formuliert. Bellin, F. (1995): 110 ha Entwurf. Diplomarbeit am Fachbereich Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel. Archivierter Manuskriptdruck. Kassel.

[6] Rösener, W. (1992). Rösener, W. (1993) Die Bauern in der europäischen Geschichte. München.

[7] Website Land Berlin, Verwaltung. Internet-Quelle (Letzter Zugriff: 09.07.2024): https://fbinter.stadt-berlin.de/fb/index.jsp?loginkey=zoomStart&mapId=k_luftbild1928@senstadt&bbox=390843,5819385,392745,5820574

[8] Stadt und Land Wohnbauten-Gesellschaft mbH: In Vermietung: Neues Stadtquartier ‚Buckower Felder‘. Internet-Quelle (Letzter Zugriff: 05.07.2024): https://stadtundland.de/mieten/angebote-neubau/neukoelln/buckower-felder-vermietung

[9] Vgl. Reckwitz, A. (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Suhrkamp Verlag.

[10] Stadt und Land Wohnbauten-Gesellschaft mbH: In Vermietung: Neues Stadtquartier ‚Buckower Felder‘, Wohnumfeld. Internet-Quelle (Letzter Zugriff: 05.07.2024): https://stadtundland.de/mieten/angebote-neubau/neukoelln/buckower-felder-vermietung

[11] Orginalabbildung: https://a.storyblok.com/f/275801/1920×1358/e056eddfdf/visualisierung-buckower-felder-quartiersplatz-02.jpeg/m/1920×0 auf der Website von Stadt und Land Wohnbauten-Gesellschaft mbH (Berlin): In Vermietung: Neues Stadtquartier ‚Buckower Felder‘, Wohnumfeld. Internet-Quelle (Letzter Zugriff: 05.07.2024): https://stadtundland.de/mieten/angebote-neubau/neukoelln/buckower-felder-vermietung

[12] Vgl. Adorno, Th. W. (1967): Über Tradition. In ders. Ohne Leitbild. Frankfurt am Main, Suhrkamp

[13] Nach Hartmut Rosa kommen in der Fähigkeit, Handlungsspuren zu hinterlassen, soziale Resonanzverhältnisse von Menschen in ihrer Umwelt zum Ausdruck, in deren Veränderungen sie ihre Handlungen wiedererkennen können und damit ihre Selbstwirksamkeit positiv erfahren. Vgl. dazu Rosa, H. (2020): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin, Suhrkamp.